151127 – Luc Abot

Sturmwächter Luc Abot am 27.11.:

Liebe Rostockerinnen und Rostocker,
liebe Theaterschaffende und Theaterliebhaber,
ich bin Wahlrostocker und französischer Staatsbürger.
Heute Abend rufe ich Sie alle zur Résistance, zum organisierten Widerstand gegen den geplanten Abbau des Volkstheaters in der Hansestadt Rostock auf.
Die Stürme, die sich aktuell über unseren Ländern und über unserer Hansestadt zusammenbrauen, sind gewaltig und in ihrer Kraft und in ihrer Bedrohung einzigartig. Spaltung der Gesellschaft, Individualismus, soziale Kälte, Intoleranz, Rechtsextremismus, Islamismus, sind für den sozialen Frieden und den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft brandgefährlich. Dies ist nicht nur weit weg zu beobachten, sondern auch in Mecklenburg-Vorpommern und an unserer Haustür, hier in Rostock. Sie sind nur durch einen „aktiven Humanismus“ (der Berliner Künstler Philipp Ruch) aufzuhalten, der sich nicht nur in mündigen, aufgeklärten und gebildeten Bürgern, sondern auch in lebendigen und starken Kulturinstitutionen wie das Volkstheater Rostock entfalten kann.
Unsere Stadt mit 200 000 Einwohnern hat in der Zukunft ein Theater verdient, das diesen Namen trägt. Die Dauerdiskussion um die Zukunft des Volkstheaters zermürbt die Einwohner und lässt viele resignieren. Die rigide und einseitige Fokussierung auf finanzielle Sparzwänge, gepaart mit der notorischen Inkompetenz und Anmaßung eines großen Teils unserer Stadtpolitiker in Sachen Kultur, verfestigt die Schäden für die Kultur in unserer Stadt und in Mecklenburg-Vorpommern und macht diesen Zustand unumkehrbar. Ist wirklich alles versucht worden? Warum wird eine Kulturförderabgabe, die in anderen Städten wie Weimar selbstverständlich erhoben wird, nicht als Idee aufgegriffen, um wenigstens etwas mehr Geld in die Kasse des Kulturetats zu spülen?
Mir fallen bei den aktuellen Diskussionen um das Volkstheater einige Aspekte auf. Die persönlichen Animositäten, Befindlichkeiten und Äußerungen sind wichtiger als das Profil, die Struktur und die Nachhaltigkeit des zukünftigen Volkstheaters geworden. Improvisation, Chaos, Konzeptlosigkeit, Anmaßung, Machtspiele, autoritärer Führungsstil der Stadt- und Landespolitiker scheinen die Agenda zu bestimmen. Liebe Rostockerinnen und Rostocker, ist das alles nicht mehr ein „Kulturkampf“ zwischen Freund und Feind als ein Kampf um die Sache, um die Kultur?
Wenn man den Intendanten und die Theaterschaffenden zu Wort kommen lassen würde, bin ich mir sicher, dass sie viele Lösungen anbieten könnten. Die Schauspieler könnten Herrn Methling und Herrn Brodkorb erklären oder aufzeigen, dass Theater, „eine Geschichte über Größe, die von Körpern erzählt wird“, wie Camus bemerkte, auf dieser Welt die beste Schule der Toleranz, der Diversität, der Empathie und der Flexibilität ist. Es gibt nicht nur Ihre Wahrheit, die Sie oft nicht einmal vom wirklich Gesagten oder wirklich Machbaren ableiten, Herr Methling, Herr Brodkorb, liebe OZ- Redakteure. Ja genau, es gibt nicht nur eine Wahrheit, sondern eine Vielzahl von Wahrheiten und Deutungsmöglichkeiten, die sich je nach Perspektive und Befinden des Betrachters, auch im Raum und und in der Zeit, verändern. Was lehrt uns das, wenn nicht das Theater, die Literatur, die Musik, der Tanz?
Albert Camus meinte: „Tout ce qui dégrade la culture, raccourcit les chemins qui mènent à la servitude“. Jeder und alles, was die Kultur herabwürdigt, verkürzt die Wege zum Untertanenstand.
Als der islamistische Terror vor zwei Wochen an einem milden Freitagabend Paris ins Mark traf, war ich zutiefst erschüttert. Ich brauchte in dem ganzen Chaos zwei Tage lang, um zu begreifen, dass es dem IS mit seinen ausgesuchten Angriffszielen darum geht, unser kulturelles Erbe zu zerstören und unser bisheriges Leben aus den Angeln zu heben. Kultur und Kulturmenschen sind der Feind: Musik, Kunst, Satire, Satiriker, Wirte, etc. Die Kunst und die Künstler sind immer auf der Seite der Fortschrittlichen. Der alte Kampf gegen die Kultur und die Kulturschaffenden ist aktueller und rigoroser denn je.
Aber zurück zu Rostock, ohne einen Vergleich herstellen zu wollen. Was soll also bei der nächsten Bürgerschaftssitzung am Mittwoch, 2.12., beraten und entschieden werden? Wird eine tragfähige, nachhaltige Theaterstruktur auf der Basis des im Juli von Hrn. Rosinski und Hrn. Latchinian vorgelegten Konzepts eingeleitet? Wird endlich eine klare Linie erkennbar oder weiter durchgewurstelt? Wird der Todesstoß, wenn es den geben soll, auf offener Bühne oder hinter den Kulissen vollzogen werden? Das weiß ich eben so wenig wie Sie, denn ich bin der Sturmwächter von Rostock und nicht das Orakel von Delphi.
Dennoch führe ich eine Trompete hier mit mir, die sehr nützlich ist, und mit der ich die Menschen warnen und auch anspornen möchte. Auch mit den ersten zwei Zeilen der Marseillaise möchte ich Ihnen so gerne Mut machen. Dieses Lied ist kein Kriegslied mehr, auch wenn es im Ausland häufig als ein solches (miss)verstanden wird. Es stellt auch nicht die französische Nation über andere Völker. Heute haben die Franzosen und die Pariser es überall gesungen, und dabei ging es ihnen um viel mehr als nur ein Stadttheater. Die Pariser und die Franzosen haben ihrer Toten gedacht, Menschen, die gestorben sind, weil sie am falschen Ort und zur falschen Zeit ihre Kultur und ihre Kunst, auf die sie so stolz sind, genossen und mit Freude erlebt haben. Weil sie sich zum Beispiel in einem Konzertsaal befanden, um dem Alltag zu entfliehen und sich mit Freunden zu treffen.
Wenn es zwei vor zwölf ist, wenn die Franzosen verzweifeln und verzagen, stimmen sie das Lied an, das sie mit „Liberté“, „Egalité“, „Fraternité“ in Verbindung bringen, auch im Gedanken an ihre Sprache, die sie lieben, und an ihr kulturelles Erbe, das sie verehren und dem sie sich stark verbunden und verpflichtet fühlen: die Dramaturgen Molière, Beaumarchais und Camus, der Tanzchoreograph Béjard, die Philosophen Diderot, Voltaire und Sartre, die Musiker Rameau, Saint-Saens, Ravel und Berlioz, ihre Straßensänger Piaf und Brassens, die Comédie Francaise, l´Opéra Garnier und die Festivals von Orange und Avignon. Wenn jede Französin, jeder Franzose wieder aufsteht und vor sich hinsingt, entfaltet dieses Lied seine magische Kraft wie jede Rostockerin, jeder Rostocker aus Stolz auf sein Volkstheater Kraft schöpfen und aufstehen sollte, müsste, könnte: „Allons enfants de la patrie, allons enfants de la cité, le jour de gloire est arrivé!“ Auf, Kinder des Vaterlandes, auf Kinder der Stadt, der Tag des Ruhmes ist angebrochen!
Wenn viel mehr Rostocker wieder aufstehen und Mut schöpfen, kann noch aus dem schweren Kampf um das Volkstheater ein glücklicher, rühmlicher Tag werden. Courage! Nur Mut!
Dafür müssen die mecklenburgischen Missstände, und diejenigen, die dafür verantwortlich zeichnen, überwunden werden. Die sieben Türme über dem Rathaus haben offenbar ausgedient, der Hüter jener Türme will noch aber kann nicht mehr. Gründen wir doch zusammen une république des arts, eine freie Republik der Schönen Künste, mit sieben neuen Wahrzeichen am Rathaus, die in die ganze Stadt hineinstrahlen mögen:

-der Tanz
-die Oper
-der Gesang
-die Musik
-das Schauspiel
-die Theaterschaffenden
-das Cabaret und die Satire (Glockengeläut)