Dafür @ Dagegen

Latchinian hat in Neustrelitz angeblich etwas Böses gesagt. Was genau, ist bis heute nicht präzise überliefert, aber es reicht zum persönlichen Beleidigtsein unseres Oberbürgermeisters und damit zur sofortigen Entlassung des Intendanten.

Unser Herr OB glaubt folgendes zu wissen und brachte es so in die Beschlussvorlage für den Hauptausschuss ein:

Herr Latchinian hat mit Blick auf den Strukturwandel bei Theatern in M-V am 09.03.2015 in Neustrelitz im Rahmen einer öffentlichen Rede erklärt, dass „diese Pläne“ „in ihren Konsequenzen auf einer unseligen Traditionslinie von Vandalismus, die Jahrtausende alt“ sei, liege.

„ln seiner bisherigen persönlichen Lebenszeit habe dieser Vandalismus in den 60er Jahren zum Beispiel zur Sprengung der jahrhundertealten Leipziger Universitätskirche geführt, damals im Namen einer Ideologie“. „Seit Wochen zerstören in dieser Weise IS-Schergen im Irak die jahrtausendalten Weltkulturerbestätten Nimrud und Kirkuk, aus religiösen Vorwänden“. „Und hier bei uns in Mecklenburg-Vorpommern – ich setze das nicht gleich, aber vergleichen dürfen muss man das schon – hat momentan im Namen des Geldes die Zerstörung funktionierender Theaterstrukturen begonnen“.

Also ich bin dafür & dagegen.

Dafür:

Ganz selbstverständlich bin auch ich dafür, dass man vergleichen darf. Dass zugleich jeder Vergleich hinkt, ist sprichwörtlich, dass er zugleich zum Nachdenken anregt, ergibt seinen Sinn.

Latchinian vergleicht Sachverhalte von Vandalismus im Namen einer Ideologie, aus religiösen Vorwänden und im Namen des Geldes miteinander.

Von einem Oberbürgermeister ist nicht die Rede. Wenn der sich die Jacke anzieht, die von der Kritik an zerstörerischen Wirkungen im Namen des Geldes, outet er sich in erschreckender Weise selbst.

Darüber, dass man vergleichen darf, ist im Zusammenhang mit Latchinian schon so viel geschrieben worden, dass ich mir eigene Argumente ersparen kann.

Dagegen:

Weil der zitierte Text zu implizieren scheint, dass die Sprengung der Leipziger Universitätskirche symbolhaft für die DDR-Kulturpolitik stehe und deshalb mit den heutigen Theaterzerstörungen nicht nur in Rostock zu vergleichen sei, dann bin ich heftig dagegen. Nicht nur, weil sich der Verlust an historisch wertvollen Baudenkmälern nach der Wende in erschreckendem Umfang fortsetzt (wenngleich jetzt „nur“ im Namen des Geldes) und ein eigenes Thema wert wäre, sondern vor allem, weil dieser Vergleich der Kulturpolitik der DDR in keiner Weise gerecht wird.

Dieses bitterarme Land hat in einem unvergleichlich großen Umfang in die Kultur investiert, die Theater einbegriffen. Ich hatte das Glück, im magischen Dreieck Deutsches Theater – Komische Oper – Berliner Ensemble aufzuwachsen, die anderen (ost-) berliner Spielstätten nicht zu vergessen.

Als Kriegskind lernte ich früh, wie wichtig Theater ist. Nach den vielen traumatischen Erlebnissen bis zum Mai 1945 erlebte ich einem kleinen, schmalen Kino das Metropol-Theater mit „Feuerwerk“. Das Lied „oh mein Papa“, ganz unoperettenhaft und schlicht gesungen, vertrieb alle Nazi-Propagandabilder vom nordisch-blonden Herrenmenschen, hart wie Kruppstahl etc. – der kleine Clown hoch auf dem Seil gewann mühelos. Zumal er nicht allein blieb, im Deutschen Theater lief „Nathan“ mit dem greisen Eduard Winterstein in der Titelrolle. Da hatte die Naziideologie keine Chance mehr. Bei der „Courage“ fanden wir unsere eigenen schlimmen Erlebnisse angesprochen und teilten kompromisslos die Erfahrungen und Konsequenzen.

So war es kein Wunder, dass wir jeweils am 1. Mai die obligatorische Demo in unserem Heimatort schwänzten, nach Berlin fuhren und am Rand des Demonstrationszuges warteten, bis das Berliner Ensemble kam – mit dem Planwagen der Mutter Courage, dahinter die Weigel, Brecht und alle anderen Ensemblemitglieder. Danach blieben wir nicht mehr am Rand stehen, sondern reihten uns ein, hinter unserem Theater, das so unverzichtbar zu unserem Leben gehörte.

So war es und so blieb es bis zur „Wende“. Heute gibt es Seelsorger für fast jedwedes großes Ungemach, damals waren es die Theater, die Musik und die Bücher, die erlittene Traumata heilten.

Ganz sehr dafür!

Keiner kann behaupten, heutzutage gäbe es keine ernsthaften seelischen Verletzungen mehr, Theater im besonderen und Kultur überhaupt sei deshalb weitgehend entbehrlich. Im Namen des Geldes sind Verletzungen für viele sehr alltäglich, von den Sorgen und Ängsten angesichts der vielfältigen Kriegen und Kriegsgefahren ganz abgesehen.

Eine derjenigen Inszenierungen am Deutschen Theater, die mich besonders beeindruckt hat, war „Der Drache“. Ich habe mich immer gewundert, warum Leonard und Latchinian das Stück nicht auf die Rostocker Bühne gebracht haben. Leonard mag es nicht gekannt haben, aber Latchinian?

Jetzt müssen wohl wir Betroffenen das Stück geben – die Fabel ist ja ganz einfach: Ein Drachentöter zog durchs Land und kam zu einer Stadt, die von einem mehrköpfigen Drachen beherrscht wurde. Er forderte jedes Jahr eine Jungfrau als Opfer. Dem wollte der Drachentöter ein Ende bereiten, aber eine Abordnung der Bürgerschaft zog ihm entgegen und beschwor ihn, von seinem Vorhaben abzulassen. Insgesamt gehe es doch ganz gut unter dem Herrn Drachen, das kleine Ungemach mit einer einzigen Jungfrau pro Jahr müsse man halt in Kauf nehmen. Die berliner Aufführung legte den Schwerpunkt des Zusammenspiels von Tyrannei und knechtseligem Untertanengeist auf den letzteren – was wir Zuschauer sehr richtig fanden: 580 Aufführungen am DT sprechen für sich.

Wie lange werden wir Betroffene es spielen müssen, bevor es wieder auf einer (Vier-Sparten-) Bühne für uns erlebbar ist und keine Jungfrauen, keine Sparten mehr geopfert werden?

4 Gedanken zu „Dafür @ Dagegen

  1. Hier ein offene Brief des Schauspielensembles Schwerin, übermittelt von Dirk Audehm und übernommen von der Facebook-Seite „Initiative Volkstheater“:

    An die Rostocker Bürgerschaft
    Präsident der Bürgerschaft der Hansestadt Rostock
    Dr. Wolfgang Nitzsche
    Neuer Markt 1
    18055 Rostock
    Schwerin, den 06.04.2015
    Sehr geehrte Damen und Herren der Rostocker Bürgerschaft
    Obgleich die Form sich wandelt, die Blüte wahrer Kunst verwelkt nie. So wird in einem japanischen Gedicht die Tradition des Theaters beschrieben. Wir als Schweriner Schauspielensemble verstehen diesen Satz heute vor allem als Maxime einer gelungenen Kulturpolitik.
    Denn bei aller Veränderung ist es doch immer nötig, dass diese Blüte gepflegt wird. Ist man mit der Pflege nachlässig, stirbt sie unweigerlich ab.
    Als ganz ähnlich empfinden wir die derzeitige Situation der Theaterlandschaft in Mecklenburg-Vorpommern. Der Kultusminister setzt außer dem Spardiktat wenig künstlerische Akzente und scheint vor allem um einen funktionierenden Abbau der kulturellen Ressourcen bemüht. Bei all dem wirklich nötigen Diskurs über den Wert von Kultur und Theater in einem Land wie Mecklenburg-Vorpommern bleibt es nicht aus, dass unterschiedliche Meinungen aufeinander treffen, Dinge zugespitzt und nicht immer treffend formuliert werden.
    Leider hat diese Debatte mit der fristlosen Kündigung von Herrn Latchinian einen neuen Höhepunkt erreicht. Für uns als außenstehendes Ensemble scheint der Affront um den Vergleich der Landespolitik mit der Kulturgüterzerstörung des IS nur ein Vorwand, um einen unbequemen, missliebigen Intendanten loszuwerden.
    Vor der Berufung zum Intendanten des Rostocker Theaters verwunderte Herr Latchinian uns noch mit seiner Äußerung das Theater im Zweifelsfall auch mit zwei Sparten führen zu können. Umso mehr haben wir uns gefreut, als wir mitbekamen, dass Herr Latchinian später eindeutig für den Erhalt des gesamten Theaters kämpfte.
    Als Künstler halten wir es für entscheidend wichtig, dass der Intendant die Kunst mit ihm allen zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigt und sie vor weiterem Abbau und Beschädigung schützt. Dafür wurde er letztendlich auch besetzt. Von einem Leiter eines Kulturbetriebs erwarten wir als Kernkompetenz, dass er die Institution als solche verteidigt und von ihr jedweden Schaden
    abwendet. Und natürlich erwarten wir auch auf der anderen Seite eine Offenheit im Diskurs und eine differenzierte Debatte über Struktur und die Ziele von Theater.
    Für uns als Außenstehende ist es in diesem konkreten Fall sekundär, ob Herr Latchinian die erwarteten Zuschauerzahlen erfüllt oder ob jedes künstlerische Produkt qualitativ allen Anforderungen gerecht wird. Entscheidend dabei ist allein, dass ein Intendant wegen einer singulären Aussage fristlos gekündigt wurde. Diesen Vorgang halten wir für untragbar. Gerade diese bewusste Instrumentalisierung einer politisch nicht auf abgesichertem Boden stehenden Aussage ist es doch, was so viele Leute heute an der Politik verzweifeln lässt. Sie selbst unterminieren damit ihre Glaubwürdigkeit und ihre Integrität und fördern damit langfristig nur umso mehr den wachsenden Vertrauensverlust gegenüber deutschen Politikern und der Demokratie im Allgemeinen.
    Das Deprimierendste daran ist, dass am Ende alle Verlierer sein werden. Die Zuschauer, das deutsche Kulturwesen, das Bundesland und vor allem auch Sie selbst.
    Wir fordern Sie hiermit auf die Kündigung von Herrn Latchinian zurückzunehmen und sich mit dem Intendanten auf Arbeitsebene konstruktiv und progressiv auseinanderzusetzen. Vielleicht kann mittelfristig in diesem zwar anstrengenden aber dringend nötigen Diskurs eine echte Lösung gefunden werden – für das Theater respektive die Zuschauer in Rostock, aber natürlich auch für die gesamte Kulturlandschaft Mecklenburg-Vorpommerns.
    Mit freundlichen Grüßen, das Schauspielensemble des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin.

  2. Ein interessanter Dialog auf der Facebook-Seite der „Initiative Volkstheater“ mit einem guten Vorschlag, hier nur auszugsweise dokumentiert:

    Thomas Kunzmann: Wenn ich was von Neustrelitz mitgenommen habe ist es jedenfalls das: Die Parteien und Fraktionen können sich hie wie da nicht auf ein solides Zukunftsmodell einigen. Es gibt nur einen Weg – alle Städte, alle Theater, alle Vereine müssen in geballter Form in Schwerin Veränderungen bewirken. Wie es ist, geht es nicht weiter und die Vorschläge aus Schwerin sind keine Option.

    Thomas Weiss: Hmm was heißt das in der Konsequenz? Eigentlich dies: Organisierrt Euch, indem Ihr Euch zusemmanschließt und Euch einen ultimativen namen gebt: „KULTURRAT in Mecklenburg und Vorpmmern“….meinetwegen als e.V….. und dann formuliert Eure schon heute klaren und eindeutigen Forderungen. Die sog. „Politik“ wird an Euch nicht vorbei kommen. Und Ihr seid ein lebendiger Widerpart zu dem höchst künstlich erzeugten sog. „Landeskululturrat“ …. irgendwie so kann es gehen…. IHR müßt es wollen. Ich sehe ganz, ganz viel Potenztial zur Einigung mit all den Initiativen, die die dämliche Brodkorb-Politik hervorgebracht hat. Nutzt die Stunde und die Empörung! Ihr werdet Erfolg haben!

    Quelle: Facebook

  3. Die Reaktion des OB und eines Teils der Bürgerschaft, den Intendanten wegen seines Vergleichs fristlos zu entlassen, beweist mir, daß Herr Latschinian mit seinen Ausführungen offensichtlich recht hatte. Punktum!

  4. Pingback: Verlorenes Theater Rostock (VTR)? | VTR BLOG

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